Schwere Unruhen nach „Lügen“-Rede des Ministerpräsidenten Gyurcsany
Eine umstrittene Rede des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany hat im September in Budapest Unruhen und Dauer-Demonstrationen ausgelöst, die als schwerste Krise in die ungarische Nachwende-Geschichte eingehen dürften. Begonnen hatte der Skandal mit der Veröffentlichung einer ursprünglich internen Rede Gyurcsanys im Kreise seiner sozialistischen Fraktion, im Mai dieses Jahres, unmittelbar nach der gewonnenen Parlamentswahl. In dieser Rede war es Gyurcsany darum gegangen, seinen Sozialisten klarzumachen, dass man sich nicht auf den Lorbeeren der gewonnenen Wahl ausruhen dürfe, sondern jetzt wirklich schmerzhafte Reformen anpacken müsse, die schon längst fällig gewesen wären: Steuererhöhungen, Abbau von Subventionen, um das ausufernde Haushaltsdefizit in den Griff zu bekommen, weil sonst die Einführung des Euro in immer unerreichbare Ferne rückt. Gyurcsany hatte in seiner temperamentvollen Rede, die auf unbekannten Wegen in die Öffentlichkeit gelangt war, mehrfach das Wort „Lüge“ benutzt. Man habe „gelogen, morgens, nachts und abends“, um die Parlamentswahl 2006 zu gewinnen. Die „Lüge“ habe darin bestanden, dass man dem Volk den wahren Zustand der Staatsfinanzen und das Ausmaß des Reformbedarfs verschwiegen habe.
Das Wort „Lüge“ wog so schwer, dass sofort, wenige Stunden nach Veröffentlichung der Rede im Rundfunk und im Internt die Leute zu einer Massendemonstration am Kossuthplatz vor dem Parlament zusammenkamen. Am Abend danach stürmte ein rechtsextremer Teil der Demonstranten, etwa 200 Leute, das Gebäude des staatlichen ungarischen Fernsehens, unweit vom Parlament. Der Mob schlug im Fernsehen mehrere Büros kurz und klein, draußen wurden Polizeiautos in Brand gesetzt, Pflastersteine flogen. Die Polizei war darauf nicht vorbereitet, so dass etwa 150 Beamte verletzt wurden. Später wurden etwa ebenso viele Randalierer verhaftet. Nach einer zweiten Krawallnacht blieben zwar weitere Randale aus, doch gingen die Demonstrationen weiter. Unter der Fürhung der rechtsnationalen Oppositionspartei FIDESZ verlangen jetzt jeden Abend mehrere Tausend Demonstranten vor dem Parlament Gyurcsanys Rücktritt. Es schien, als würden diese Demonstrationen auch die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des antikommunistischen Aufstands von 1956 überschatten, denn der Demonstrationsort war für den Haupt-Festakt mit hohen Staatsgästen aus aller Welt vorgesehen. Es war unklar, ob die Demonstranten den Platz für die Staatsfeiern freimachen würden.
Angeheizt werden die Proteste auch durch die Tatsache, dass Gyurcsanys Sozialisten bei der landesweiten Kommunalwahl am 1. Oktober eine schwere Niederlage erlitten haben. Für Unmut sorgt auch, dass Gyurcsany nach der Kommunalwahl bei einer Vertrauensabstimmung im Parlament in seinem Amt bestätigt wurde. Somit, meinen Gyurcsanys Gegner, sind alle offiziellen Instrumente für seinen Sturz ausgeschöpft, so dass nur noch der Straßenprotest übrigbleibe. Unterdessen sorgt der FIDESZ-Vorsitzende Viktor Orban unter seinen eigenen Anhängern für Verwirrung. Orban verlangte zwar Gyurcsanys Rücktritt und den Einsatz einer Übergangsregierung aus Experten, lehnte aber vorgezogene Parlamentswahlen ab. Nun blieb die Frage offen, wie Gyurcsany in diesem politischen Unruhe-Klima sein Sparprogramm durchziehen will, das bereits von der EU-Kommission gebilligt worden war. Die EU hat Ungarn bis 2009 Zeit gegeben, die Finanzen in Ordnung zu bringen.