Corona versetzt Gewerkschaften in Stresstest

Was bedeuten geschlossene Betriebe, Homeoffice und Kurzarbeit für Deutschlands Gewerkschaften? Oft bricht der direkte Kontakt zu den Beschäftigten einfach weg. Doch in vielen Betrieben sind Arbeitnehmervertreter gefragt wie sonst selten.

Die Corona-Krise hat das Gewerkschaftsjahr 2020 komplett durcheinandergewirbelt. In den Führungszentralen der deutschen Gewerkschaften erwartet man prägende Auswirkungen auch für die Zukunft.

Noch immer haben Betriebsräte und Gewerkschaften in vielen Unternehmen alle Hände voll zu tun, mit den Arbeitgebern den Laden am Laufen zu halten. Gleichzeitig ist die Pandemie Brandbeschleuniger des Strukturwandels. Dabei stellt Corona Arbeitnehmervertreter im Moment vor große praktische Probleme, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur bei Gewerkschaften zeigt.

Das normale Tarifgeschäft verlief 2020 unnormal. Den Abschluss für rund 2,3 Millionen Angestellten im öffentlichen Dienst im Oktober zum Beispiel errangen Verdi und Beamtenbund dbb sowie Bund und Kommunen unter äußerst erschwerten Bedingungen. Abstandsregeln und der Druck, wichtige Bereiche am Laufen zu lassen, hemmten Warnstreiks und Proteste. Tarifkommissionen mussten online zusammenkommen.

MITGLIEDERENTWICKLUNG:

Verdi ist mit ihrer Zuständigkeit für Dienstleistungen, Luftverkehr und öffentlichem Dienst besonders stark von der Krise betroffen. Während des Frühjahr-Lockdowns lagen die Eintrittszahlen erst einmal unter dem Vorjahreszeitraum, wie Verdi-Chef Frank Werneke berichtet. «Zeiten von Homeoffice und oftmals geschlossenen oder nur auf Notbetrieb laufenden Betrieben und Verwaltungen sind nicht ideal für die Mitgliederwerbung von Gewerkschaften.» Andererseits habe Verdi während der großen Tarifrunden bei der Post und im öffentlichen Dienst Mitglieder dazugewonnen. Der dbb berichtet sogar bereits für das Gesamtjahr 2020 von leichten Mitgliederzuwächsen.

DGB-Chef Reiner Hoffmann zeichnet ein gemischtes Bild: «Wir haben zwar deutlich weniger Austritte, aber erhebliche Schwierigkeiten bei der Werbung neuer Mitglieder.» Es sei derzeit einfach viel schwieriger, die Menschen direkt anzusprechen. Bei der Polizei zum Beispiel seien aber in einzelnen Dienststellen bis zu 90 Prozent neu eingestellter Beamtinnen und Beamten der Gewerkschaft GdP beigetreten. Konkrete Zahlen zur Mitgliederentwicklung veröffentlichen die Gewerkschaften zu Beginn des neuen Jahres.

ARBEITNEHMERALLTAG:

«Wenn die Belegschaften nicht im Betrieb oder der Dienststelle sind, fallen zunächst einmal die ganzen informellen Kommunikationsorte weg: Keine Nachfrage, kein klärendes Gespräch auf dem Gang, vor dem Schwarzen Brett oder in der Kantine», sagt dbb-Chef Ulrich Silberbach. Die betriebliche Mitbestimmung stelle das vor große Herausforderungen.

Teile der Gremienarbeit müssten über Videokonferenzen erledigt werden. «Das alles verkompliziert und verlangsamt Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse und setzt natürlich voraus, dass entsprechende Datenleitungen vorhanden sind», so Silberbach.

Die Gewerkschaften mussten im Corona-Jahr neue Wege finden. «Es galt auch, neue, kreative Aktionsformen zu entwickeln, um ihre Anliegen gegenüber Arbeitgebern und Politik deutlich zu machen», sagt eine Sprecherin von Europas größter Gewerkschaft, der IG Metall.

KRISENMANAGEMENT: 

Aus Sicht der IG Metall sind es in der Krise vor allem die Betriebsräte, die in vielen Unternehmen eine entscheidende Rolle spielen. Galt und gilt es doch, kurzfristig den Arbeits- und Gesundheitsschutz coronatauglich zu machen. Vom Homeoffice über Hygienekonzepten bis zur Kurzarbeit ist viel zu regeln.

Die Gewerkschaft IG BCE richtete nach eigenen Angaben bereits beim ersten Lockdown im Frühjahr eine Reihe von Krisen-Taskforces ein. Auf die Beine gestellt wurde etwa eine Krisen-Hotline für die Mitglieder oder eine Vielzahl tariflicher Vereinbarungen zur Abmilderung der Krise für die Beschäftigten. Die Bergbau- und Chemiegewerkschaft konnte nach eigenen Angaben vielfach eine Aufstockung des Kurzarbeitergelds erreichen.

Die Arbeitgeber forderte die IG BCE auf, den digitalen Zugang zu den Beschäftigten nicht zu versperren: «Die Arbeitgeber müssen Gewerkschaften den Dialog mit den Beschäftigten über deren betriebliche Mailadressen, Firmen-Intranet und -Netzwerke und virtuelle „Schwarze Bretter“ ermöglichen.»

STRUKTURWANDEL:

Mehr Homeoffice auch nach der Pandemie? Noch mehr Onlinehandel statt Kaufhäuser? Neue Unternehmensprofile? Viele Erfahrungen der Krise werden nach Expertenansicht auch die Zeit danach prägen. Die Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen sind noch gar nicht absehbar.

Allerdings: Die Arbeitnehmervertreter sind schon seit Langem Teil des Wandels. So verlören die Gewerkschaften in der Braunkohle-Förderung aufgrund des Strukturwandels viele Mitglieder, räumt Hoffmann ein. Deshalb bedauert der DGB-Chef besonders: Im Bereich der regenerativen Energien zeigten die Arbeitgeber wenig Interesse daran, «sich neben dem grünen Label auch ein soziales Label anzuhaften». Und wenn die Betriebseinheiten klein seien und im mobilen Einsatz, etwa im Pflegebereich, seien die Beschäftigen ebenfalls viel schwieriger zu organisieren.

Die Folgen des Virus können aber auch den Zugang der Menschen zu den Gewerkschaften verändern. «Die Corona-Krise hat uns einen regelrechten Digitalisierungsschub gebracht», sagt Hoffmann. Er spricht von einem positiven Treiber. Allerdings betont der DGB-Chef auch: «Es bedarf immer wieder auch des persönlichen Austausches.»

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