Tausende Menschen haben in Armenien gegen das Abkommen mit Russland und Aserbaidschan zur Beendigung des Krieges im Konfliktgebiet Berg-Karabach protestiert.
«Nikol, tritt zurück!» und «Verräter!» skandierten die Demonstranten am Mittwoch im Zentrum der armenischen Hauptstadt Eriwan. Sie forderten den Rücktritt von Regierungschef Nikol Paschinjan, wie ein Reporter der Deutschen Presse-Agentur vor Ort berichtete.
Paschinjan hatte mit den Präsidenten Russlands und Aserbaidschans, Wladimir Putin und Ilham Aliyev, ein Abkommen über das Ende der Kampfhandlungen unterschrieben – und damit Proteste in seinem Land ausgelöst. Die Polizei ging mit Gewalt gegen Demonstranten vor.
«Heute beginnt die Bewegung zum Schutz der Heimat. Wir gehen bis zum Schluss», sagte der Oppositionspolitiker Artur Wanezjan. Auf dem Platz der Freiheit versammelten sich bis 10.000 Menschen. Es gab Dutzende Festnahmen – auch weil Kundgebungen wegen des geltenden Kriegsrechts und wegen der Coronavirus-Pandemie nicht erlaubt sind. Unter den Festgenommenen waren auch mehrere Parlamentsabgeordnete.
Paschinjan verteidigte die Unterzeichnung des Abkommens. Auf diese Weise seien viele Menschenleben gerettet worden, sagte er. Das in der Nacht zum Dienstag ausgehandelte Karabach-Abkommen sieht die Rückgabe größerer Gebiete, die bisher unter Armeniens Kontrolle standen, an Aserbaidschan vor. Darunter sind auch wichtige Verbindungen zwischen Armenien und der Hauptstadt Stepanakert in Berg-Karabach.
Kern der Vereinbarung ist, dass knapp 2000 russische Friedenssoldaten die Waffenruhe überwachen sollen. Hunderte Kräfte bezogen bereits in Berg-Karabach mit schwerer Militärtechnik Stellung, wie das Verteidigungsministerium in Moskau mitteilte. Die Verlegung der Truppen dauere an, hieß es.
In einem historischen Schritt zur Lösung des blutigen Konflikts um die Südkaukasusregion Berg-Karabach haben Aserbaidschan und Armenien dem Einsatz russischer Friedenssoldaten zugestimmt. Als sei alles von langer Hand vorbereitet gewesen, landeten die ersten der insgesamt rund 2000 Soldaten bereits am Dienstag in der Region, in der Russland nun seinen Einfluss massiv ausbaut. 22 Flugzeuge vom Typ Iljuschin Il-76 brachten schweres Militärgerät in das umkämpfte Gebiet, wie das russische Verteidigungsministerium auf Videos zeigte.
Zuvor hatte Kremlchef Wladimir Putin mitten in der Nacht die Einigung mit Aserbaidschan und Armenien über ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen verkündet. Im Kriegsgebiet blieb es erstmals ruhig. Stationiert werden die russischen Einheiten in der Hauptstadt Stepanakert in Berg-Karabach. Die armenischen Truppen, das sieht die Vereinbarung vor, müssen sich aus dem Konfliktgebiet zurückziehen.
Während Armenien nach jahrzehntelangem Kampf um die Region nun fürchtet, über Berg-Karabach die Kontrolle zu verlieren, triumphierte in Aserbaidschan Präsident Ilham Aliyev.
Die heiße Phase der Kämpfe sei vorbei, nun gehe es an die politischen Verhandlungen für eine Lösung des Konflikts, sagte Aliyev in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Und er ging davon aus, dass sich sein Lebensziel – die Wiedereingliederung des Anfang der 1990er Jahre verlorenen Gebiets in Aserbaidschan – nun erfüllt. Er sprach von einem «großen Sieg».
«Das ist ein Sieg der Völker beider Länder», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow zu dem Abkommen. Russlands Soldaten seien der Garant dafür, dass das Blutvergießen ende. Die Kräfte würden auch den Austausch von Gefangenen und Toten sicherstellen. Mit Blick auf die massiven Proteste in Armenien gegen das Abkommen sagte Peskow, er hoffe, dass die Menschen dort die Vorteile eines Kriegsendes verstünden. Das Dokument garantiere den Geflüchteten auch eine sichere Rückkehr in ihre Wohnorte.
Nach russischen Angaben waren Frankreich und die USA nicht beteiligt an den Verhandlungen über eine Lösung des Konflikts. Beide Länder sind mit Russland Co-Vorsitzende in der Minsker Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die zuständig ist für die Karabach-Verhandlungen. Frankreich forderte eine langfristige politische Lösung, bei der die Interessen der Armenier gewahrt werden, hieß es aus dem Präsidentenpalast.
UN-Generalsekretär António Guterres sei «erleichtert» über die Vereinbarung zum Ende der Kampfhandlungen, sagte sein Sprecher in New York. Die Details der Vereinbarung würden noch untersucht. «Unser Fokus lag immer auf dem Wohlergehen der Zivilisten, auf dem Zugang für humanitäre Hilfe und dem Schutz von Leben. Und wir hoffen, dass das nun erreicht werden kann.»
Russland wies eine Erklärung von Präsident Aliyev in Baku zurück, nach der auch türkische Soldaten an der Friedensmission beteiligt würden. «Die Anwesenheit türkischer Soldaten in Karabach wurde nicht vereinbart», stellte Peskow klar. Der Kreml veröffentliche das Abkommen mit den insgesamt neun Punkten auf seiner Internetseite.
Irans Präsident Hassan Ruhani sagte: «Als Nachbar der beiden Länder sind wir glücklich über diese Entscheidung.» Aus Sicht von Putin ist die Vereinbarung ein Kompromiss, die Grundlage für eine langfristige Lösung des Karabach-Problems. Putin informierte auch seinen türkischen Kollegen Recep Tayyip Erdogan, der Russlands Anstrengungen für einen allumfassenden Lösungsansatz gelobt habe, teilte der Kreml mit. Beide Seiten hätten telefonisch eine enge Zusammenarbeit zur Umsetzung des Abkommens vereinbart.
Bisherige Anläufe für eine Waffenruhe waren stets gescheitert. Zwar hatte Armenien sich an seine «Schutzmacht» Russland mit der Bitte um Friedenssoldaten gewandt. Allerdings hieß es in Moskau stets, dass Aserbaidschan zustimmen müsse. Diese Zustimmung kam überraschend in der Nacht. Aserbaidschan hatte zuvor einen russischen Kampfhubschrauber über Armenien abgeschossen – versehentlich, wie die Behörden in Baku betonten.
Russland hatte zwar schon bisher Tausende Soldaten in Armenien stationiert, aber nicht in Berg-Karabach. Die Friedenstruppen aus Russland sollen nun zunächst fünf Jahre bleiben. Vorgesehen ist laut Abkommen die Option einer Verlängerung um weitere fünf Jahre.
Armeniens Regierungschef Paschinjan sprach von einer insgesamt «schmerzhaften Vereinbarung» für sein Land. Teile des bisher kontrollierten Gebietes gehen nun an Aserbaidschan: bis 15. November der Kreis Kelbecer im Nordwesten von Karabach und bis 20. November der Kreis Agdam im Osten. Bis Anfang Dezember müssen sich die Truppen von Berg-Karabach aus dem Kreis Latschin (Laçın) im Westen zurückziehen, in dem die für die Versorgung wichtige Hauptstraße nach Armenien verläuft. Die Straße soll von Friedenssoldaten geschützt werden.
Aserbaidschan dagegen darf die Kontrolle über die strategisch wichtige Stadt Schuscha behalten, die Truppen am Wochenende erobert hatten. Der Anführer der nicht anerkannten Republik Berg-Karabach, Araik Arutjunjan, sagte, dass die Lage hoffnungslos gewesen sei. «Die Moral der Armee war unbefriedigend. Wir hatten Krankheiten, das Coronavirus, hatten keine Möglichkeiten, normale medizinische Hilfe zu leisten», sagte der 46-Jährige.
Russland schaffte damit in einem weiteren Konfliktherd auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion vollendete Tatsachen. Schon in den abtrünnigen georgischen Gebieten Abchasien und Südossetien oder in der von Moldau abgespaltenen Region Transnistrien haben die Russen Tausende Soldaten stationiert.
Der Abgeordnete Manuel Sarrazin, Sprecher für Osteuropapolitik bei den Grünen im Bundestag, warnte davor, Russland allein das Feld zu überlassen. «Die Bundesregierung sollte sich keine Illusionen machen: Dem Kreml geht es nicht um Frieden, sondern um Einflussnahme und politische Kontrolle der Region», sagte er. Als Friedensstifter sei der Kreml an keiner Stelle ernsthaft in Erscheinung getreten.
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