Eine Woche vor den nächsten Bund-Länder-Beratungen über das weitere Vorgehen in der Corona-Pandemie hat Kanzlerin Angela Merkel eine Lockerung der Lockdowns abgelehnt.
Sie bitte alle Menschen, «noch eine Weile durchzuhalten», sagte die CDU-Politikerin am Dienstag in der ARD-Sendung «Farbe bekennen». Zwar gebe es jetzt bundesweit eine Inzidenz von unter 100 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen. «Das ist eine gute Leistung, da waren wir lange nicht. Aber damit haben wir noch nicht wieder die Kontrolle über das Virus durch die Gesundheitsämter.»
Daran müsse weiter gearbeitet werden, betonte Merkel. Lockerungen werde es aber nicht erst geben, wenn alle Bürger geimpft seien. «Das ist nicht der Weg, den wir anstreben.»
Einen Tag nach dem vielfach kritisierten Impfgipfel warb Merkel um Verständnis für den Ablauf der Corona-Impfungen in Deutschland. «Wir können keinen starren Impfplan machen», sagte sie. Die Hersteller hätten den Regierungschefs von Bund und Ländern am Vortag erläutert, dass die Impfstoffe unter Hochdruck produziert würden und sich exakte Vorhersagen über die genauen Mengen nicht lange im Voraus treffen ließen. Man müsse das Vorgehen «dynamisch anpassen». Bis zum Ende des Sommers solle jede und jeder zumindest die erste der zwei nötigen Impfungen bekommen können. Bei der Impfstoff-Bestellung durch die Europäische Union sei «im Großen und Ganzen nichts schief gelaufen».
Die Ministerpräsidenten der Länder, Pharmavertreter, Vertreter der EU-Kommission und Experten hatten mit Merkel am Montagabend mehrere Stunden lang über die Probleme beim Start der Corona-Impfungen in Deutschland diskutiert. Oppositionsparteien und Verbände zeigten sich am Dienstag enttäuscht über die mageren Ergebnisse. Aus der Wirtschaft kam Kritik wegen fehlender Perspektiven für einen Weg aus dem Lockdown.
Am Mittwoch kommender Woche wollen Merkel und die Ministerpräsidenten darüber entscheiden, ob der zunächst bis 14. Februar befristete Lockdown in Deutschland erneut verlängert wird.
Nach dem Ärger über organisatorische Probleme wollen sich Bund und Länder nun über bevorstehende Lieferungen enger abstimmen. In einem «nationalen Impfplan» sollen künftig zudem bestimmte Annahmen modelliert werden, um Mengen beim Impfstoff vorab besser abschätzen zu können. Bis zum Sommer sollen die Lieferungen des begehrten Corona-Impfstoffs deutlich anziehen. Doch bis in den April hinein rechnet Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch mit «harten Wochen der Knappheit». Die Hersteller hätten klargemacht, dass sich das nicht schneller beschleunigen lasse, auch mit Geld nicht.
Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission, Thomas Mertens, der an der Spitzenrunde im Kanzleramt teilgenommen hatte, nannte die Aussagen der Firmenvertreter bei «Welt» überzeugend. Das Herstellen eines solchen Impfstoffes sei nicht trivial, es gebe die Technologie nur an ganz wenigen Stellen. Biontech-Chef Ugur Sahin sagte in den «Tagesthemen», die Hersteller seien in einer Ausnahmesituation: «Wir sind selbst davon abhängig, dass die Zulieferer uns Materialien liefern.»
Scharfe Kritik kam von der Opposition: Die Chefin der Linksfraktion im Bundestag, Amira Mohamed Ali, sagte am Dienstag: «Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie nicht länger um den heißen Brei herumredet, sondern einen klaren Plan vorlegt, wie sie dieses Impfchaos beenden möchte.» Ihr Co-Vorsitzender Dietmar Bartsch sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, das Ergebnis des Impfgipfels sei vor allem eine Beruhigungspille an die Bevölkerung.
Auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner nannte die Ergebnisse enttäuschend. Er erneuerte seine Forderung nach einer «Tempo-Prämie», um Kapazitäten in der Pharmabranche auszuweiten. Grünen-Chef Robert Habeck kritisierte im ARD-«Morgenmagazin», es sei nur eine Strategie angekündigt worden. «Und ich glaube nicht, dass das befriedigend ist.» AfD-Fraktionschef Alexander Gauland sprach von einer «reine(n) Showveranstaltung, mit der die Verantwortlichen für das Impf-Desaster kollektiv versucht haben, ihr Versagen zu bemänteln».
Der Geschäftsführer des Mittelstandsverbands BVMW, Markus Jerger, sagte: «Der Impfgipfel war keinesfalls ein Gipfel, sondern das Tal der Unverbindlichkeiten. Weder eine verbindliche Exit-Strategie noch ein klarer Fahrplan für Lockerungen der Freiheitsrestriktionen für Betriebe und Bürger sind sichtbar.» Industriepräsident Siegfried Russwurm forderte ebenfalls einen «Fahrplan für Lockerungen», wo immer sie auf Basis verlässlicher Daten über das Infektionsgeschehen möglich würden. «Die Unternehmen sind dringender denn je auf mehr Berechenbarkeit bei den politischen Entscheidungen angewiesen.»
Viel Hoffnung auf mögliche Lockerungen ab Mitte Februar machten aber auch mehrere Ministerpräsidenten nicht. «Ich bin da im Moment sehr zurückhaltend», sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD). Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne) sagte in Stuttgart, Öffnungen könne es nur geben, wenn der Inzidenzwert auf unter 50 falle. «Wenn wir in deren Nähe nicht kommen, wird das eher zu Verlängerungen führen.»
Der Inzidenzwert für Deutschland – also die Zahl der binnen sieben Tagen gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner – lag am Dienstagmorgen bei 90, wie das Robert Koch-Institut meldete. Es wurden 6114 Corona-Neuinfektionen binnen eines Tages registriert. Vor genau einer Woche waren es 6412.
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